Eine Lehre für’s Leben…

In der Gruppe aufwachsen, sich nicht als Außenseiter zu fühlen - das macht Menschen stark (Foto: Thomas Grziwa / www.docuMoments.de)

Von Marcus JÜNGLING (www.westsideblogger.de)

Die Schulglocke schrillt in die letzten Worte der Stunde hinein. Stühle rücken über den grauen Boden, Hefte verschwinden in Taschen und eilig werden Blicke getauscht. Klassenwechsel. Heute etwas anders. Am Anfang der Stunde wurde die Neue vorgestellt.

Ein Landei, wie wir nach genau 5 Sätzen von ihr wussten. Sie war hier, weil ihre Eltern den Hof aufgeben mussten. Ich will ehrlich sein, sie hatte nie eine faire Chance. Die Klassengemeinschaft blieb ihr von Anfang an verwehrt. Zurückblickend betrachtet war sie ein Mädchen mit ganz vielen Ängsten. Ihre Heimat auf immer verloren, stand sie ebenso einsam auf dem Schulhof herum, fand keinen Kontakt und gab nach einiger Zeit auch auf. Das war der Zeitpunkt, an dem meine Lehrstunde begann.

Trotz aller Einsamkeit brachte sie mir etwas für das Leben bei. Eine Grenze. Sie zog eine Demarkationslinie für mich und alle anderen.

Wir waren jung und suchten das Abenteuer. In unseren jungen Lenden brannten zuweilen Feuer, die wir nicht verstanden, nicht umsetzen konnten. Mit Eltern, die selber nicht viel zur Sexualität beizutragen hatten, wurden viele von uns mit nassen Hosen und Scham wach. Was passierte da mit uns? Wir hatten eine Ahnung, aber so richtig einordnen konnte die Geschehnisse niemand. Manchmal ist es dann so, dass in einer Gruppe diese eigene Scham mit Wut und Aggressivität kompensiert wird. So fingen wir an und suchten uns Opfer. Wen wir auserkoren, war eindeutig. Sie. Einsam, ohne Freunde und mit genug Spleens ausgestattet, dass es für noch fünf weitere Mädchen gereicht hätte.

Eigentlich war sie ganz hübsch. Das fiel mir irgendwann auf. Keine Ahnung warum. Es kam mir so in den Kopf, als ich langsam auf sie zuging. Wir drehten ihre Einsamkeit in eine ihr innewohnende Beklopptheit um. Schlimmer noch, eigentlich begehrten wir sie. Auf eine irrationale, unwissende Weise waren wir schlicht geil auf sie. Da sie aber der Klassenkasper zu sein hatte, gab das niemand zu. Unsere innere Wut über die Scham wurde von den pochenden Lenden angefacht. Es musste kommen, wie es kam. Irgendwann fing einer an und zog ihr den Rock hoch. Kniff ihr in die Arme, grabschte an ihren Busen. Keiner der heranwachsenden Jungs aus unserer Klasse machte da eine Ausnahme. Die bisher von uns Alpha-Kindern Gebeutelten sahen ihre Chance, den vergangenen Demütigungen zu entkommen. Sie trieben es wirklich schlimm.

Eines Tages, ich hatte zu der Zeit bereits eine Freundin und musste mich nicht (oft) derartig beweisen, kam es zum Eklat. Sie wurde wieder einmal malträtiert und fing an sich zu wehren. Schlug um sich. Bisher hatte sie das nicht gemacht. Geschockt wich die Meute zurück. Eine Nase blutete, Stoff war gerissen, Tränen flossen. Ich ging vor und fragte, was los sei. Alle zeigten auf die Neue (sie war das immer und würde es immer bleiben). Augen ruhten auf mir, Mädchen, denen ich zu gefallen versuchte, schauten zu. Ich blickte in die Runde. Es gab kein Zurück. “Hast du den Arsch auf?” fuhr ich sie an. Sie starrte mich grimmig an: “Verpiss dich!” Ich ging einen Schritt auf sie zu, drückte sie mit meinem Bauch und den Lenden an die Fensterbank. Sie quiekte vor Angst auf.

Dann sah ich plötzlich Sterne. In ihrer Hand ein riesiger Schlüsselbund. Sie hämmerte damit auf meinen Kopf ein. Ich taumelte zurück. Nicht vor Schmerzen. Ich war überrascht.

Sie hatte Courage, sie wehrte sich, und eine Sekunde, eine einzige verdammte Sekunde sah ich ihre gesamten Qualen in ihren Augen. Dann wischte sie die Tränen weg und ich ließ sie gehen. Nie mehr fasste ich sie an. Es gab eine Grenze. Ich hatte sie überschritten. Schon lange. Eigentlich hätte sie von Anfang an unseren Beistand gebraucht. Ihre Familie am Abgrund, Eltern, die sich um andere Dinge als ihr Mädchen kümmerten (und sicherlich auch mussten).

Dieser Tag in meinem Leben hat mit allem aufgeräumt, was Wut und das Ausleben an Unschuldigen angeht. Es gibt Spielregeln im Umgang untereinander. Diese lehrt uns das Leben. Niemand wird damit geboren. Viele Faktoren spielen mit und bringen entweder den Menschen oder das Tier hervor. Als heranwachsender Mensch ist es von Vorteil, solche Erlebnisse zu haben. Sie prägen und zeigen, was geht und was nicht. Ich habe gelernt, mich keinem Gruppenzwang hinzugeben, habe gelernt, dass Menschen auf die Empathie angewiesen sind, dass wir im Umgang miteinander sehr aufmerksam sein müssen. Niemand darf auf diese Weise gedemütigt werden.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen